Was ist Antisemitismus und woher kommt er?

Darüber, was Antisemitismus sei, woher er komme und wie er am besten bekämpft werden solle, gibt es unzählige Bücher, Artikel und Meinungen. Sehr viel Zeit und Geld wurde für Forschungen aufgewendet und unzählige Intellektuelle haben sich damit befasst.

Die Rede ist oft von rechtem Antisemitismus, von linkem und von islamischem. Zwischen diesen drei Varianten gäbe es grosse Unterschiede, wird gesagt, entsprechend unterschiedlich müsse das Problem angegangen werden.

Hier, als ein Beispiel, ist ein Artikel in der NZZ, der davon handelt.

Die Schwierigkeit der Definition

Eine der Debatten dreht sich um die Definition von Antisemitismus. Eine der bekanntesten unter diesen Definitionen bezieht sich auf den 3D-Test von Natan Scharanski, einem israelischen Politiker:

  • Dämonisierung
  • Delegitimierung
  • Doppelstandards

gegenüber dem jüdischen Volk. Das ist eine Definition, die recht einfach anzuwenden ist: Wo mindestens eines dieser drei Kriterien aufgefunden wird, handelt es sich um Antisemitismus.

Das Problem bei dieser Definition ist, dass sich das Phänomen der Doppelstandards in praktisch allen arabischen und westlichen Staaten und internationalen Organisationen wie der UNO und der EU findet: Der Massstab, der regelmässig an Israel angelegt wird, wird an keinen anderen Staat der Welt angelegt.

Deshalb stellt sich sofort die Frage: Wie weit vertritt der israelische Staat das jüdische Volk? Mit anderen Worten: Wann wird Kritik am jüdischen Staat zur Kritik am jüdischen Volk?

Da Israel ein demokratischer Staat ist, dessen Regierung und Politik also massgeblich von der Hälfte des jüdischen Volkes bestimmt wird (die andere Hälfte lebt in der Diaspora und ist in Israel nicht wahlberechtigt), steht Israel also mindestens für die Hälfte des jüdischen Volkes. Eigentlich ist es sogar deutlich mehr, denn auch sehr viele Diaspora-Juden positionieren sich an die Seite Israels, auch wenn sie nicht wahlberechtigt sind.

Demzufolge lässt sich sehr wohl sagen: Ja, Israel repräsentiert das jüdische Volk und Israelkritik ist dasselbe wie Judenkritik.


Eine andere Definition bezieht sich auf die IHRA-Definition der „International Holocaust Remembrance Alliance“, die inzwischen in einigen Staaten und Gremien angewendet wird: Antisemitismus sei „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Antisemitisch sei deshalb:

  • Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung.
  • Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschliesslich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen und Juden.
  • Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden.
  • Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmasses, der Mechanismen (z.B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust).
  • Der Vorwurf gegenüber den Jüdinnen und Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen.
  • Der Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer.
  • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.
  • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird.
  • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.
  • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten.
  • Das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel.
IHRC

An dieser Definition ist nicht nur die unsägliche Gendersprache (im deutschen Text) zu kritisieren (sind weibliche Juden keine Juden?), sondern ebenso, dass sie auch Nicht-Juden einschliesst. Doch was hat ein Hass auf Nicht-Juden (zum Beispiel auf Muslime, auf Homosexuelle oder auf Chinesen) mit Antisemitismus zu tun? Solches ist schlicht Unsinn: Antisemitismus richtet sich immer und ausschliesslich gegen Juden!

Auch die Ausage, Antisemitismus könne sich als „Hass gegenüber Juden“ auswirken, ist wenig hilfreich, denn solange sich Antisemitismus nicht gegen Juden auswirkt, braucht er auch nicht thematisiert zu werden. Niemand kann in die Köpfe der Menschen schauen und es wäre auch nicht legitim, die Gedanken von Menschen kontrollieren zu wollen. Hass ist ein Gefühl, wie Liebe auch, das sich nur schwer kontrollieren lässt. Eine solche Kontrolle braucht es nur dann, wenn sich solche Hass-Gedanken effektiv in Taten auswirken.

Auch diese Definition ist also nicht wirklich hilfreich.


Eher als Nebelpetarde muss die Behauptung erkannt werden, Araber seien auch Semiten, deshalb müsse Islamkritik (Islamophobie) auch als antisemitisch betrachtet werden und deshalb könnten Araber gar keine Antisemiten sein, weil sich dies ja gegen ihr eigenes Volk richten würde.

Diese Behauptung ignoriert die Herkunft dieses Begriffs. Er wurde 1879 von intellektuellen Judenhassern in die Welt gesetzt, um sich einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben und sich vom „judenhassenden Pöbel“ abzugrenzen. Mit semitischen Völkern (bzw. Sprachregionen) hatte das nie etwas zu tun, sondern es hat sich stets ausschliesslich gegen Juden gerichtet.


Doch all diese Definitionsversuche müssen scheitern, solange sie nicht am Ursprung ansetzen, denn bevor über Antisemitismus debattiert wird, muss zwingend darüber Klarheit geschaffen werden: „Was ist das jüdische Volk?“

Solange das nicht klar ist, solange das von Antisemitismus adressierte Opfer nicht definiert und bekannt ist, kann auch nicht sinnvoll über Antisemitismus debattiert werden. So lange können auch keine Massnahmen umgesetzt werden, um diese Opfer besser zu schützen.

Was ist das jüdische Volk?

Theoretisch wäre es recht einfach, zu erklären, was das jüdische Volk ist, und doch herrscht darüber so viel Unkenntnis! Es wird darüber auch viel gestritten, sogar innerhalb unseres Volkes. Doch es ist sehr klar definiert, wer zu unserem Volk gehört:

Wer von einer jüdischen Mutter geboren worden ist, und/oder wer von einem vom Obersten Rabbinat in Jerusalem anerkannten Beit Din (ein Gericht aus drei Rabbinern) den erfolgreichen Abschluss einer „Konversion“ (Gyur Prozess) bestätigt erhalten hat, der gehört zum jüdischen Volk.

Diese Regeln galten so schon zu Abrahams Zeiten: Sarah war zum Judentum „konvertiert“ und deshalb ist Isaak Jude, Hagar war das nicht und deshalb ist Ishmael kein Jude. Ein „Beit Din“ gab es zu jener Zeit zwar noch nicht, doch eine erfolgreiche „Konversion“ hat sich damals durch den Glauben und den Lebensstil manifestiert.

Das erklärt jetzt zwar, wer zu unserem Volk gehört, nicht jedoch, was unser Volk zu einem speziellen Volk macht, zu einem Volk, das sich von anderen Völkern unterscheidet.

Denn ein Volk, das sich nicht von anderen Völkern unterscheiden lässt, weder durch Sprache noch durch Kultur noch durch Religion noch durch eine gemeinsame Geschichte, ist kein Volk im eigentlichen Sinn des Wortes. Ein Volk ist nicht dasselbe wie eine Nation. Es gibt Vielvölkernationen (China, als Beispiel) und es gibt Völker, die auf mehrere Nationen verteilt sind (Kurden, als Beispiel).

Dazu gibt es zwei ausschlaggebende Aspekte, die das jüdische Volk zu einem eigenen Volk machen:

  • Die gemeinsame Geschichte, und
  • die 613 Gesetze (Mitzwot) der Torah

Über die 613 Mitzwot will ich in einem eigenen Artikel schreiben, denn es ist ein längeres Thema. Es muss jedoch soweit verstanden werden, dass dieses Regelwerk, das auf der Torah beruht, den Kern unserer Religion, unseres Selbstverständnisses und unserer Kultur ausmacht.

Doch mit Antisemitismus, unserem Thema, hat dieses Regelwerk nichts zu tun: Antisemitismus mag zwar mit anderen Religionen zu tun haben, nicht jedoch mit der unsrigen. Kein Antisemit befragt einen Juden, welcher religiösen Strömung er angehört oder ob er überhaupt religiös ist, bevor er ihn attackiert.

Das genaue Gegenteil ist der Fall: Wesentliche Elemente dieses Regelwerks sind in die internationalen Menschenrechte übernommen worden und/oder finden sich in vielen Gesetzbüchern von zivilisierten Rechtsstaaten. Die allermeisten Menschen orientieren sich ebenfalls an der Mehrheit dieser Regeln und sind damit einverstanden. Dass ein Antisemit diese Regeln kritisiert, vernimmt man nie.

Der für Antisemitismus ausschlaggebende Aspekt unseres Volkes findet sich nicht in unserer Religion, sondern in unserer Geschichte.

Die Geschichte des jüdischen Volkes

Nach der Entstehung des jüdischen Volkes gefragt, antworten viele mit den jüdischen Vorvätern Abraham, Isaak und Jakob. Jakob, der später Israel genannt wird, ist der Vater der 12 Stämme Israels. Dies bezeichnet zwar den Ursprung, die genetische Abstammung, jedoch nicht die „Geburt des jüdischen Volkes“, denn diese 12 Stämme bildeten vorerst eine Familie, einen Familienclan, doch noch kein Volk.

Das Volk ist erst etwa 400 Jahre später entstanden, nämlich nach dem Exodus, nach der Befreiung aus der ägyptischen Sklavenhaltung, am Fuss des Berges Sinai, wo rund 600’000 Menschen (Männer) versammelt waren und sich als Volk konstituiert haben.

Das jüdische Volk ist aus einer Sklavenbefreiungsbewegung entstanden.

Die zentrale Bedeutung der persönlichen Freiheit zeigt sich auch deutlich bereits in den ersten Sätzen der Torah, der fünf Bücher von Moses. Demnach hat sich der Mensch die Kenntnis von Gut und Böse ergattert (die verbotene Frucht) und ist dadurch frei und selbst verantwortlich für seine Entscheide und für sein Tun und Lassen geworden.

Das Judentum kennt kein irdisches Wesen, das die Autorität hätte, einem Juden vorzuschreiben, was er zu tun und lassen hat. Nicht einmal Moses, der mit Abstand grösste Prophet unserer Geschichte, war fehlerfrei. Auch er kann, soll sogar, kritisiert werden: Wir sollen seine Fehler erkennen und aus ihnen lernen.

Auch später in der Geschichte des jüdischen Volkes hat die in der Torah festgelegte Gewaltentrennung zwischen Weltlichem (der König), Rechtlichem (die Richter) und Religiösem (die Priester) stets verhindert, dass ein einzelner Mensch, oder eine einzelne Gruppe, zu viel Macht an sich reissen konnte.

Hierbei braucht ein Jude nicht einmal besonders „religiös“ zu sein und das bewusst zu erkennen, denn es ist viel zu tief, über Tausende von Jahren und hunderte von Generationen, „in uns eingraviert“. So erklärt sich auch, weshalb es in der ganzen Geschichte des jüdischen Volkes nie eine Diktatur gab, nie ein faschistisches System, nie einen „allmächtigen Kaiser“.

Kampf gegen Antisemitismus als Kampf gegen autoritäre Systeme

Wenn wir das einmal erkennen, dann erkennen wir auch, dass das Judentum der natürliche Feind jedes autoritären Systems ist, sei dies ein ägyptischer Pharao, ein römischer Kaiser, ein katholischer Papst, ein kommunistischer Diktator, ein nationalsozialistischer Führer oder ein mächtiger Teil der Bevölkerung: Alle solchen Autoritäten können vom jüdischen Volk zwar akzeptiert werden, wenn die Situation nichts anderes zulässt, sie können jedoch nie als letztendliche Autorität anerkannt werden.

Das Judentum ist eine zutiefst antiautoritäre Bewegung!

Und jetzt wird auch klar, weshalb sich jedes autoritäre System früher oder später antisemitisch positioniert: Der Jude ist der Systemfeind. Der Jude bedroht die Allmacht der Machthaber.

Dieser Machthaber braucht nicht eine einzelne Person, ein Diktator oder ein Kaiser, zu sein, es kann auch eine Gruppe der Bevölkerung sein, die sich zum Beispiel durch zu viel Macht in den Medien, durch autoritäre Gedanken- oder Verhaltenskontrolle zeigt. Das lässt einen an George Orwells „Farm der Tiere“ erinnern.

Es ist jedenfalls deutlich zu sehen und zeigt sich in der Geschichte noch und noch: Je autoritärer ein System ist, desto antisemitischer wird es, wenn es in seinem (anvisierten) Machtbereich jüdische Gemeinden gibt.

Hierbei ist wenig wichtig, wie dieser Antisemitismus gegenüber der eigenen Bevölkerung begründet wird. Die Mächtigen werden jene Gründe anführen, die sich am besten verkaufen lassen und die am ehesten Erfolg versprechen.

Wer sich auch immer für einen Kampf gegen Antisemitismus engagieren will, der sollte sich nicht in der Vielzahl der Argumente von Antisemiten verlieren, sondern sich auf den Kern dieses Phänomens konzentrieren: Dem Kampf gegen ein autoritäres System!


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